Ein kalter Dienstag…
Es war ein kalter Winter im Jahr 1981. Gerade dieser Dienstag schien einer der kältesten der letzten Wochen zu sein. Es kann in Russland schon einmal vorkommen, dass derart kalte Dienstag gibt.
Herr Heinrich wartete schon ungeduldig; er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und schaute immer wieder zur Tür. Sonst kam Herr Reichelt immer pünktlich. Diesmal war er aber schon zwanzig Minuten zu spät.
Der Lada war dieser Zeit das am weitesten verbreitete Automobil in der sowjetischen Hauptstadt. Damit man es am Morgen wie gewohnt starten und nur den Zündschlüssel umdrehen musste, hatten die Bürger dieser Metropole (und auch in anderen Dörfern, Städten und Regionen) einen unregelmäßigen Schlafrythmus. Es war keineswegs unüblich, nachts das warme Bett zu verlassen, um genauso unregelmäßig den Lada zu starten und eine Runde um den Block zu fahren. Sinn dieser für unser (heutiges) Verständnis merkwürdigen Rituale war wieder einmal die Kälte (schließlich würden das Öl oder andere Dinge sonst gefrieren).
Herr Reichelt verbrachte die ganze Nacht gemütlich im warmen Bett und dachte nicht einmal daran, sein Auto zu bewegen. Er hatte einen Wolga und da würde das Öl ganz sicher nicht gefrieren.
Weiterhin soll es ja schon vorgekommen sein, dass Dinge, die man mal eben schnell vom Auto entfernen konnte, auch schnell entfernt wurden. Der Vorrat an Scheibenwischern, Spiegeln und dergleichen war in jener Zeit gering und so bauten sämtliche Russen ihre Teile nach der Fahrt ab, um sie vor der Fahrt wieder am Auto zu montieren.
Als Herr Reichelt nun endlich mit zwanzigminütiger Verspätung das Büro betrat, fiel Herr Heinrich fast vom Stuhl. Warum er denn so spät komme, wollte Herr Heinrich wissen, und warum zum Teufel er seine Aktentasche in den Sessel feuere.
Später sollte sich herausstellen, dass dieser Tag einer der lustigsten im ganzen Büro war und der Grund der Verspätung bei allen Angestellten auf vollstes Verständnis stieß.
Herr Reichelt frühstückte wie gewohnt und folgte auch sonst allen Gewohnheiten seines morgendlichen Ablaufs.
Die erste Ungewohnheit jedoch war, dass sein Schloss vom Wolga vereist war. Er versuchte den Schlüssel ins Loch zu schieben und sah sich mit den natürlichen Grenzen des Eises konfrontiert. Er hatte noch den bitteren Geschmack seines starken Kaffees auf Zunge und für ihn begann der Tag an diesem Morgen nur sehr langsam; verzögert durch diese blöde Kälte, dachte sich Herr Reichelt.
Es kostete ihn zwanzig Minuten bis er es geschafft hatte, das Schloss zu öffnen (Enteiser gab es nicht und an eine Fernbedienung für einen Wolga war bei weitem nicht zu denken). Er lieh sich von einem der vorbeikommenden Moskauer ein Feuerzeug. Mit diesem Feuerzeug erhitzte er abwechselnd Schloss und Schlüssel.
Endlich gelang Herr Reichelt ins Auto und startete den Motor ohne Probleme. Die Fahrt dauerte eine Weile und die Kälte stieg ihm in den Kragen. Er wollte das Fenster schließen, nur war keines offen. Mit Entsetzen stellte Herr Reichelt schließlich fest, dass sein Fenster nicht offen sein konnte. Die rechte Tür war weg ? einfach so und das auch noch über Nacht.
Herr Heinrich bemerkte, dass er dann ja gar nicht hätte zu spät kommen brauchen; er hätte doch auch auf der Beifahrerseite einsteigen können, da dort die Tür sowieso weg sei. Herr Reichelt entgegnete, dass ihm das auch schon aufgefallen sei, er aber wie immer bevorzugt über die Fahrerseite das Auto zu betreten pflegte.
Als Herr Reichelt seine Tasche auf den Sessel schmiss, kullerte noch der Außenspiegel hervor. Herr Reichelt hatte ihn wie gewöhnlich am Vortag nach der Fahrt abmontiert.
So oder so ähnlich könnte es sich zugetragen haben, an einem kalten russischen Dienstag des Jahres 1981. Jedenfalls erzählte mir mein Großvater diese Geschichte, dessen Zeuge er gewesen war. Namen und Daten sind Fiktion, denn wer weiß heute schon, ob dieser Dienstag anno 1981 wirklich so kalt war.